Geschichte erleben - Stolpersteine, szenische Lesung und mehr

von Johanna Daugs

In Anlehnung an die Unterrichtsreihe „Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg“ bekamen die Schüler:innen der DWV1 und DWV2 einen spannenden und emotionalen Einblick in die eigene Stadtgeschichte in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Gladbeck. 

Stadtarchivar Herr Schemmert begrüßte die Schüler:innen im Gladbecker Rathaus

Herr Schemmert, Leiter des Stadtarchivs, begrüßte die beiden Klassen im Rathaus der Stadt aus dem Willy-Brandt-Platz. In einem kurzen Intro erhielten wir Informationen zur damaligen Situation Gladbecks und zum Wahlverhalten der Gladbecker Bürger:innen vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Daran anschließend begutachteten wir mithilfe von Fotografien die beiden relevanten Bürgermeister GladbecksMichael Jovy, der lange Jahre parteilos als Bürgermeister tätig war, und Bernhard Hackenberg, der 1932 das Amt übernahm und eine wichtige Rolle bei der Machtübernahme in Gladbeck spielte. Als Mitglied der NSDAP und der SS setzte er, in Zusammenarbeit mit dem Kreisleiter Bockermann, unter anderem das 11-Punkte-Programm durch.

Im Treppenaufgang des Rathauses hängen Porträts bedeutender Gladbecker.
1932 wurde Dr. Bernhard Hackenberg Bürgermeister von Gladbeck.

Den Erlass dieses Programms, welches den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Raum zum Ziel hatte, erlebten die Schüler:innen hautnah, indem Schauspieler Marco Spohr Kreisleiter Bockermann im Ratssaal zum Leben erweckte. Die gewaltige Stimme, die furchteinflößende Gestik und die durchdringende Mimik ließen die Schüler:innen dieses Programm gegen Juden in Gladbeck spüren.  

An der nächsten Station begegnete uns Schauspieler Spohr als ein Opfer der Zwangsausweisung. Als Sohn jüdischer Eltern, wurde der 17-Jährige mit seinen Eltern ausgewiesen und bat zig Jahre später erneut um deutsche Staatsbürgerschaft. Nach zahlreichen Antragsablehnungen wurde seinem Antrag erst 1989 zugestimmt. 

Letzte Station im Rathaus war der Luftschutzbunker, in denen im März 1945 etwa 1000 Gladbecker:innen Schutz suchten. Während sich die Schüler:innen in den stickigen und schwach beleuchteten Kellerräumen umschauten, las Spohr einen Erinnerungsbericht einer jungen Frau vor, die vom dreitätigen Bombenregen auf die Stadt und dem Feuermeer in den Straßen berichtete. Ihr Flehen „Bitte lass mich noch 21 werden!“ machte uns alle sehr nachdenklich. 

Schauspieler Marco Spohr machte die NS-Zeit eindrucksvoll spürbar.
Das beklemmende Gefühl, in einem Luftschutzbunker auszuharren, konnten die Schüler:innen selbst erfahren und davon hören.

Unser Spaziergang führte uns weiter zur Jovy-Villa. Die Villa wurde in der Nachkriegszeit als Schaltzentrale und Verwaltungsbehörde der Alliierten genutzt, von der die Entnazifizierung in Gladbeck ausging. Passend dazu erfuhren die Schüler:innen von dem milden Urteil Bürgermeister Hackenbergs, der als „entlastet“ eingestuft wurde. Die Gladbecker:innen zeigten sich empört über dieses Fehlurteil und forderten eine Revision und ein erneutes Verfahren in Gladbeck selbst statt in Bonn. Der neue Ausschluss in Gelsenkirchen stufte Hackenberg in Gruppe 4 ein und machte ihn dadurch zu einem „Mitläufer“, der dennoch seine volle Pension bis zu seinem Tode erhalten hat.

Besonders schlimm empfanden die Schüler:innen die Station des Polizeiamtes Nähe Jovy-Park, in dem sich die Verhörräume und Arrestzellen der Gestapo befanden. Auch hier erfuhren die Klassen die Gräueltaten der Nationalsozialisten durch eine Darbietung Spohrs, der einen Originalbericht aus jener Zeit vortrug. Thematisiert wurde das grausame Vorgehen bei Befragungen durch ein Prügelkommando aus SS und SA, sowie die Selbstmorde der Inhaftierten. Ein Schüler berichtete darüber hinaus von seinem Großvater, der ebenfalls hier zum Verhör einbestellt und dies glücklicherweise überlebt hat.

Aus der Jovy Villa wurde nach 1945 zunächst die Schaltzentrale der Alliierten und später der Sitz der Volkshochschule Gladbeck (VHS).
Im ehemaligen Polizeiamt fanden grausame Verhöre durch die Gestapo, die geheime Staatspolizei, statt. Auch vor Folter wurde nicht zurückgeschreckt.

Den radikalen Umgang der Nationalsozialisten mit unliebsamen Gegnern erlebten wir am Stolperstein von Mathias Jakobs, der als Mitglied der SPD und unbeugsames Ratsmitglied zur Zielscheibe wurde. Wegen „Gefährdung der Ordnung“ wurde er 1933 verhaftet und zu sechsmonatigem Aufenthalt im Zuchthaus verurteilt. Er starb nur zwei Jahre später an den Folgen der Haft im KZ Lichtenburg. Heute ist unter anderem die Stadthalle nach ihm benannt.

Weitere Informationen zu den Menschen hinter den Stolpersteinen findet ihr hier und sogar eine App zu den Stolpersteinen in NRW könnt Ihr Euch für Android oder iOS herunterladen. 

Ein Stolperstein erinnert an Mathias Jakobs.
Mit der "Stolperstein-App" kann man sich selbst auf Spurensuche begeben. Quelle: https://www.blickfeld-wuppertal.de/oncampus/stolperstein-app

Auf dem Weg zum Ehrenmal in Wittringen begegneten uns Geschichten von Zwangsarbeiter:innen, wie Cornelius B., die etwa ein Drittel der Bevölkerung in Gladbeck ausmachten. Im Park angelangt, standen wir vor dem Platz, auf dem am 1. Juli 1933 feierlich die Bücherverbrennung stattgefunden hat. Spohr las einen zeitgenössischen Zeitungsartikel vor, in dem davon berichtet wurde, wie feindliche Plakate, Fahnen, Akten von Gewerkschaften und unliebsame Literatur in die Flammen geworfen wurden. 

Zum Abschluss nahmen die Schüler:innen auf den Mauern des Ehrenmals Platz und hörten dem Gedicht „Krieg dem Kriege“ von Kurt Tucholsky zu, vorgetragen von Marco Spohr. Die Aktualität dieser Verse, wie „Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen. Werden die Menschen es niemals lernen?“ ließ unsere Gedanken verständlicherweise Richtung Osten in die Ukraine schweifen und machte alle Anwesenden nachdenklich und traurig.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass uns diese gut geplante und ausgewogene Führung tiefergehende Einblicke in Opfer und Täter des Nationalsozialismus in Gladbeck gegeben hat und einen bleibenden Eindruck sowohl bei den Schüler:innen als auch den Lehrerkräften hinterlassen hat. Wir bedanken uns recht herzlich bei Marco Spohr für seine schauspielerischen Leistungen und bei Herrn Schemmert, für sein fachliches Know How und die ergänzenden Sachinformationen. Wir freuen uns über eine weitere Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Gladbeck.

 

Lesung am Wittringer Ehrenmal.
In Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Krieg dem Kriege

Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.
Zeit, große Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,

weit, weit –!

Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.
Und keiner, der aufzubegehren wagt.
Monat um Monat, Jahr um Jahr …

Und wenn mal einer auf Urlaub war, sah er zu Haus die dicken Bäuche.

Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche
der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.
Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
„Krieg! Krieg! Großer Sieg!

Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!“
Und es starben die andern, die andern, die andern …

Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:  

Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.

Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?

Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.

Werden die Menschen es niemals lernen?

Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –

Blut und zermalmte Knochen und Dreck …

Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.
Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.

Für wen das alles? Pro patria?

Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Los beschieden

unsern Söhnen und euern Enkeln.

Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehn.

Wir haben alle, alle gesehn,

wohin ein solcher Wahnsinn führt –

Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,

schenken uns wieder Nationalisten.

Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren. –
Das wäre kein Friede.

Das wäre Wahn.

Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.

Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!

Und Friede auf Erden.

Kurt Tucholsky

Quelle: Ulk Jg. 48, Nr. 24 vom 13. Juni 1919