Mahnende Erinnerung(en)

Gegen 10 Uhr begrüßten der stellvertretende Bürgermeister Herr Dyhringer und Stadtarchivar Herr Schemmert am 19. Juni 2024 Schüler:innen des BKGs und des Ratsgymnasiums im Alten Rathaus der Stadt Gladbeck, um die folgenden zwei Stunden auf den Spuren des NS diese Zeit der Stadt in Erinnerung zu rufen. Schauspieler Marco Spohr machte durch szenische Lesungen an historischen Orten in Gladbeck Geschichte lebendig und erschütterte und bewegte die Schüler:innen mit seinen emotionalen, mal lauten, mal leisen Worten aus der Perspektive unterschiedlicher Zeitgenossen, sowohl aus Täter- als auch aus Opferperspektive. 

Die erste Station startete vor zwei Bürgermeisterporträts im Treppenaufgang zum Ratssaal, davon eines von Dr. Michael Jovy, Oberbürgermeister der Stadt Gladbeck von 1919 bis Ende 1931. Das Porträt gab einen ersten Einblick in die Veränderungen, die die sogenannte „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten mit sich brachte: Dr. Jovy wurde von 1932 durch Bernhard Hackenberg abgelöst, der seit 1933 in der NSDAP und als SS-Untersturmführer ein Repräsentant und Erfüllungsgehilfe des NS-Staates war. Hackenberg wurde am 15. Oktober 1932 als Oberbürgermeister der Stadt Gladbeck ins Amt eingeführt. Er war für zwölf Jahre gewählt worden, blieb aber nach den Bestimmungen der Verordnung über die Verlängerung der Amtszeit der Zeitbeamten weiter im Amt, und zwar bis zur Besetzung der Stadt am 29. März 1945 durch Alliierte Truppen. 

Die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel des Nationalsozialismus ist auch in Gladbeck nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Auch die Geschichte unserer Stadt ist untrennbar mit dieser Ära verbunden und es liegt nun an uns, aus dieser Vergangenheit zu lernen und vor allem unsere Demokratie zu stärken.

Stellv. Bürgermeister Herr Dyhringer

Im historischen Ratssaal.
Schauspieler Herr Spohr verliest das "11-Punkte-Programm" gegen das Judentum in der Rolle als Kreisleiter Gustav Bockermann.

Im Ratsaal erwartete Schauspieler Herr Spohr die Gruppe in der Rolle des Kreisleiters Gustav Bockermann und verlas das am 1. August 1935 verabschiedete „11-Punkte-Programm“ gegen das Judentum. Einen Auszug daraus könnt ihr euch anhören, wenn ihr auf das Noten-Icon klickt.

Auszug aus einer Pressemitteilung der Stadt Gladbeck, basierend auf einem Brief von Dr. Bernhard Preminger an den Leiter des Amtes für Ratsangelegenheiten Helmut Woltz im Frühjahr 1990 (aus WAZ-Presseartikel, 11. Mai 1990), die die Perspektive eines Gladbecker Juden wiedergibt, der nach dem Krieg wieder in Gladbeck leben will, wo er sich zuhause und heimisch fühlt:

Ich möchte mit meiner Familie in Gladbeck leben! Ich will nicht wieder zurück nach Wladiwostok. Meine Heimat ist Gladbeck, hier möchte ich leben! 

Nach meiner Ankunft in Gladbeck habe ich die zuständigen Behörden schriftlich ersucht, meine Deportation aus meiner Geburtsstadt für ungesetzlich und somit für ungültig zu erklären. Eine solche Entscheidung könnte als Grundlage dafür dienen, mich wieder in der deutschen Heimat, nach der ich mich all die schweren Jahre sehnte, zu integrieren. Als ich als 17-jähriger Junge, zusammen mit meinen Eltern, aus unserer Wohnung in der Heinrichstraße 26 von Gestapo und SS abtransportiert wurde – ohne Erlaubnis, mehr mitzunehmen als einige Kleidungsstücke, wurde uns als einziges Motiv für diese Untat angegeben, daß Gladbeck „judenfrei“ werden soll. Dieses Ziel wurde dann auch schnell erreicht.

Heute bezweifle ich aber sehr, daß Gladbeck noch Wert darauf legt, „judenfrei“ zu bleiben. Mehr noch, ich habe den Eindruck, daß Gladbecker meiner Generation, die die Judenverfolgungen duldeten oder sogar mitmachten, dies aufrichtig bereuen – von der Jugend ganz zu schweigen. Darum denke ich, daß die breite Öffentlichkeit mein Anliegen unterstützen wird.

Abstieg in den Luftschutzkeller im Rathaus.
Während des Krieges waren die Räume bei Fliegeralarm hoffnungslos überfüllt.

Zeitzeuge Lothar Kinner: Wenn die Sirenen geheult haben, wussten wir, jetzt dauert es nur ein paar Minuten, dann sind die Flieger da und die Bomben fallen.

Zeitzeuge Aloys Buhl: Das Pfeifen der Bomben kam immer näher. Dann traf eine Bombe den Bunker, schlug durch, es gab eine große Erschütterung. Als sich der Staub einigermaßen gelegt hatte, kam der angstvolle Blick in die Runde – und die traurige Wahrheit: 15 Tote, die waren graugrün im Gesicht, es war eine Gasbombe.

Erinnerungen von Erna-Johanna Fiebig (Aus dem Buch Feuersturm an der Ruhr, 2014)

Erneuter Einflug starker Bomberverbände. Man hört jetzt das Brummen von Flugzeugen. ‚Schnell in den Luftschutzkeller‘, sagte der Vater. ‚Sofort. Beeilt euch. Wir haben keine Zeit mehr, um in den Stollen zu laufen‘.

Die Tür zum Luftschutzraum fiel hinter uns ins Schloss, da ging ein Hagel von Sprengbomben nieder. Das Haus schwankte und bebte. Putz bröckelte von der Kellerdecke. Die Glühbirnen erloschen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den Besatzungszonen entnatifiziert. NRW gehörte zur britischen Besatzungszone, somit auch Gladbeck. Im heutigen Gebäude der VHS, der damaligen Jovy Villa, die den Briten als Entnazifizierungs- und Verwaltungsstelle diente, wurde Bernhard Hackenberg – ja genau der Oberbürgermeister bis 1945 – in seinem Entnazifizierungsverfahren in Bonn als „entlastet“ eingestuft. Hackenberg forderte daraufhin in einem Schreiben vom 6. November 1948 die Auszahlung seines Ruhegehaltes. Dieses Unrecht, denn Hackenberg war alles andere als ein weißes Blatt, löste unter den Stadtvertretern einmütige Empörung aus:

Dr. Hackenberg war Führer in der SS und hat die Katastrophenpolitik des Dritten Reiches öffentlich noch in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch unterstützt. Erheblich weniger belastete Bürger der Stadt Gladbeck und Dutzende von Beamten, kleinen Angestellten und Arbeitern der Stadt Gladbeck sind in Gruppe 4 und Gruppe 3 eingestuft worden. Angesichts dieses schreienden Unrechts fordern die Stadtvertreter Gladbecks, daß das Urteil […] sofort einer Revision unterzogen wird.

Die Stadtvertretung fordert auch, daß der Fall Hackenberg von neuem vor dem Hauptausschuss in Gladbeck zur Verhandlung kommt. Die Stadtvertretung fordert ferner, daß mit Beschleunigung eine solche gesetzliche Regelung der Entnazifizierung erfolgt, daß sich Fehlurteile dieser Art nicht wiederholen und daß die Folgen der bereits ergangenen Fehlurteile wieder rückgängig gemacht werde.

Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Stadtvertretung am 25. November 1948.

Der Protest hatte wenig Erfolg. Zwar wurde Hackenberg auf Stufe 4 „Mitläufer“ hochgestuft, seine Pensionszahlungen erhielt er dennoch.

Der nächste Erinnerungsort des NS-Unrechts führte die Gruppe zum heutigen Jovy-Platz, in dessen unmittelbarer Nähe sich die heutige Polizeistation Gladbecks befindet. In der NS-Zeit fanden sich im Gebäude der Gestapo (Geheime Staatspolizei) Arrestzellen und Verhörräume, wo Menschen zum Teil zu Tode gefoltert oder so mürbe gemacht wurden, dass sie nach stunden- und tagelanger Qual jede Tat gestanden, selbst wenn sie sie gar nicht begangen hatten.

Einige Meter weiter liegt das ehemalige Wohnhaus Mathias Jakobs (ihr kennt wahrscheinlich alle die Mathias-Jakobs-Stadthalle in Gladbeck), der als als überzeugter Sozialdemokrat und als SPD-Mitglied zur Zielscheibe der Nazis wurde. 1933 wegen „Gefährdung der Ordnung“ in seinem Wohnhaus verhaftet, starb er zwei Jahre später an den Haftfolgen im KZ Lichtenburg. Vor seinem Wohnhaus erinnert ein Stolperstein an ihn und sein Schicksal.

Am Eingang zum Wittringer Wald machten wir Station, um etwas über Zwangsarbeit in Gladbeck während der NS-Zeit zu hören. In unmittelbarer Nähe lagen die Möllerschächte, wo unter anderem der Überlebende Cornelius B. arbeiten musste. Cornelius B. arbeitete nach 1945 auf den Möllerschächten in Gladbeck. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde er aufgrund der während der Zwangsarbeitszeit erlittenen körperlichen Schwächungen erwerbsunfähig.

Bis zu seinem Tod im Jahre 1989 lebte er unweit des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers in Ellinghorst. Heimisch ist er im Ruhrgebiet sein Leben lang nicht geworden.

Ich bin am 17. Mai 1916 in Lenzeschti, Tschernowitz, das damals noch zu Österreich gehörte, geboren. Im Jahre 1918 – soweit ich mich erinnere – kam meine Heimat zu Rumänien. Mein Heimatort wurde während des Hitlerkrieges von den deutschen Soldaten besetzt. Im Jahre 1941 wurde ich zwangsweise nach Deutschland deportiert und kam zunächst in das Arbeitslager Kolomea, wo ich ca. drei Monate verblieb. […] Im Oktober 1941 wurden wir nach Gladbeck in das Lager am Luftschacht, Maria-Theresien-Str. 9, transportiert. Wir wurden von uniformierten Wachleuten bewacht. Darunter befand sich ein gewisser Wilhelm P., der damals in Gladbeck auf der Möllerstraße wohnte und sehr grausam war; er hat nicht nur mich, sondern auch andere Arbeitskameraden mit einem Gummiknüppel geschlagen.

Erinnerungsbericht von Cornelius B. über seine Zeit als Zwangsarbeiter in Gladbeck in den Jahren von 1941 bis 1945 (entnommen aus dem Ausstellungskatalog „Zwangsarbeit in Rheinland und Westfalen 1939-1945“, 2002).

Auch in Wittringen brannten 1933 viele Bücher.

Auch vor Büchern machten die Nationalsozialisten nicht Halt, denn Lesen gefährdet die Dummheit und Diktaturen, weil in Büchern mitunter kluge Gedanken und Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu finden sind. Am 1. Juli 1933  „übergaben [die Nazis] den Flammen“  – wie sie es nannten – die Schriften zahlreicher jüdischer und „undeutscher“ Schriftsteller, darunter unter anderem Werke von Berthold Brecht, Siegmund Freud und Erich Kästner. Tipp: schaut mal in diese Literatur hinein, es lohnt sich! 

Am Ehrenmal in Wittringen endete mit Kurt Tucholskys Gedicht „Krieg dem Kriege“ die historische Stadtführung und stimmte nachdenklich. Nie wieder! ist heute leider immer noch aktuell und unsere Geschichte mahnt uns, wachsam zu bleiben und für Freiheit und Frieden einzustehen. Danke für die lehrreiche Zeit und die tolle Darbietung. Zum Abschluss könnt ihr euch Tucholskys Gedicht anhören.